Gastkommentar von Hans Kohlmaier, 27.2.2023 Drucken E-Mail

 

Wann nützt die Neutralität einem Land?

Sie hilft vor allem im Krieg, wenn der Aggressor weiter weg ist, kein zentrales Interesse am Land hat, nicht allzu mächtig ist und das neutrale Land Hilfe von außen erwarten kann. Andernfalls hilft sie gar nicht, wie die entsprechenden Länder im Ersten und Zweiten Weltkrieg erfahren mußten.

Das erfolgreichste neutrale Land seit dem Zweiten Weltkrieg war Finnland, ohne offiziell neutral zu sein. Eine klar defensive, aber starke Militärpolitik, die allgemeine Ausrichtung und umfangreiche Vorbereitungen zum Schutz der Zivilbevölkerung haben Finnland das Schicksal von Tschetschenien erspart.
Jetzt wollen Finnland und Schweden in die NATO. Sie lernen aus dem Beispiel der Ukraine. Diese hatte entsprechend dem Budapester Memorandum von 1994 ihre Atomwaffen an Russland abgegeben und dafür von Russland die Souveränität und Integrität garantiert bekommen. Das Memorandum wurde als völkerrechtlicher Vertrag bei der UNO hinterlegt. Kein NATO-Mitglied hat bisher Russland angegriffen - nicht einmal in der Phase der Schwäche beim Zerfall der Sowjetunion. Umgekehrt hat jedoch Russland mehrmals Länder am Rand seines Territoriums angegriffen. Es führt die alte zaristische Tradition fort: kleinere Staaten werden so lange attackiert, bis sie Teile ihres Gebietes und schließlich die eigene staatliche Existenz verlieren.

Jetzt wird diese Strategie bei der Ukraine durchgeführt. Ist sie erfolgreich, dann kann es mit dem nächsten Land weiter gehen - bis die Landkarte der ehemaligen Sowjetunion wieder hergestellt ist.

Russland mit allen Kräften, auch mit militärischen, in der Ukraine zu bekämpfen, bedeutet daher, zukünftige weitere Eroberungskriege zu verhindern. Und das bedeutet auch mehr Sicherheit für neutrale Staaten. Wir müssen aus dem Zweiten Weltkrieg die richtigen Lehren ziehen. Je entschlossener möglichst viele Staaten den russischen Feldzug in der Ukraine bekämpfen, umso mehr werden mögliche Nachahmer abgeschreckt.
In einer Welt, in der mehrere Großmächte aggressiv vorgehen, ist die staatliche Souveränität eines der wichtigsten Prinzipien für den Frieden. So gesehen kämpft die Ukraine für den Weltfrieden und im Interesse der neutralen Länder.
Das zielt auch auf China ab, das seine Bereitschaft, Taiwan notfalls zu erobern, laut verkündet.

Natürlich ist ein Frieden durch Verhandlungen angesichts des durch den Krieg verursachten Leides höchst wünschenswert. Aber wenn er dem Aggressor einen Teil der Beute überlässt, dann ist er nur die Vorstufe zu weiteren Kriegen. Stückweise Eroberung ist ein Teil der russischen Strategie. So lange das ukrainische Volk kämpfen will, müssen wir es unterstützen. Die Ukraine hat zu entscheiden, wann sie aufhören will. Die Gefahr eines atomaren Krieges wird gerne ins Treffen geführt. Diese Gefahr gibt es, aber sie ist unwahrscheinlich. Die USA haben in Vietnam verloren und keine Atomwaffen eingesetzt. Die Sowjetunion hat in Afghanistan verloren und keine Atomwaffen eingesetzt. Russland kann seine Landgewinne in der Ukraine aufgeben, ohne Atomwaffen einzusetzen.

Wenn der Wink mit dem möglichen Atomkrieg das stärkste aller Argumente ist, dann steht die Welt vor der ungehinderten Herrschaft atomar bewaffneter Großräuber. Russland und die NATO rutschen immer mehr in eine offene Konfrontation hinein. Und wir müssen alles tun, um einen offenen Krieg dieser beiden zu verhindern. Aber wenn sich die NATO einfach zurück zieht, bedeutet das nur die nächste Konfrontation auf einer höheren und damit gefährlicheren weiteren Stufe. Denn Russland wird nach einer erfolgreichen Aggression in der Ukraine den Schluss ziehen, dass weitere Aggression eine bewiesenermaßen nützliche Strategie ist. Damit wird die Wahrscheinlichkeit immer größer, dass die Welt in einen Krieg zwischen den USA und China mit Russland als Juniorpartner gerät, wobei Russland vor allem auf Europa fixiert ist.

Wenn Russland sich durch die politische Entwicklung in der Ukraine bedroht fühlt, dann hat diese durch die laufenden Ereignisse noch viel mehr Recht dazu. Es ist daher sinnvoll und in gewisser Weise friedensstiftend, wenn sie der EU und der NATO beitreten könnte. Allerdings ist es dringend notwendig, dass NATO und Russland einen Weg der Koexistenz ohne Krieg finden. Das ist als Ziel von notwendigen zentralen Verhandlungen beider Seiten auf der obersten Ebene anzustreben. Atomare Bewaffnung und die Stationierung von Atomwaffen haben dabei große Wichtigkeit. Da hat eine europäische Friedensbewegung große Aufgaben vor sich. Eine falsche Ausrichtung der Friedensbewegung wäre ein Drängen der Bewegung zu einem Frieden, der dem Räuber einen Teil der ukrainischen Beute läßt.
Überhaupt muß sich die Friedensbewegung vor einer strategischen Falle hüten: vor lauter Sehnsucht nach dem Frieden den Großmächten zu erlauben, kleinere Staaten zu überwältigen, um ihre Großmacht-Interessen zu befriedigen - also den Weltkrieg zu verhindern. Da haben Neutralität und gelebte Blockunabhängigkeit eine wichtige Funktion. Natürlich behindert eine unabhängige Ukraine das Ziel Russlands, zum Status der Sowjetunion zurück zu kehren. Aus geopolitischen und wirtschaftlichen Gründen braucht eine Supermacht Russland die Einverleibung der Ukraine. Eine Welt, die den Frieden sucht, braucht das Gegenteil.

Mit den USA im Ukraine-Krieg teilweise zusammen zu arbeiten, bedeutet nicht die Unterordnung unter einen US-Imperialismus. Genau so wenig hat die Friedensbewegung im Vietnam-Krieg sich dem sowjetischen Imperialismus untergeordnet.

Die Ukraine ist übrigens kein faschistischer aggressiver Staat. Sie hat ein Problem mit aggressiven rechten Strömungen, aber das hat Russland in weit größerem Ausmaß.

Die Ukraine bewältigt ihr Faschismusproblem bisher. Die Wahlergebnisse dort sind ein starkes Anzeichen dafür. In Russland jedoch gewinnt die äußerste rechte Seite immer mehr an Einfluß. Siehe dazu die Dokumentationen auf ARTE.

März 2023, Hans Kohlmaier ( Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! JavaScript muss aktiviert werden, damit sie angezeigt werden kann. )

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