Woko vom 14.2.: „Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit“ (F. Dürrenmatt) Drucken E-Mail

 

Friedrich Dürrenmatts paradoxe Komödie „Die Physiker“, vom Schweizer Dramatiker 1961 verfasst, in der es um die Verantwortung der Wissenschafter in Hinblick auf deren Erkenntnisse und deren ethische sowie politische Konsequenzen geht, erfährt in Corona-Zeiten eine wissenschaftstheoretische und tagespolitische Aktualität, welche weit über die literarische Bedeutung des häufig gespielten Stückes hinausreicht.

Abgesehen von Teilaspekten der Handlung sind es insbesondere auch die „21 Punkte zu den Physikern“, also Dürrenmatts Thesen im Anhang des Stückes, welche die besondere Bedeutung und Aussagekraft der Groteske in Hinblick auf das Corona-Dilemma ausmachen.

So etwa wird das planmäßige Handeln, welches im Sinne des Dramatikers ständig von „Zufällen“, durchbrochen wird, zu einer Theorie des Geschehens, durch welche geradezu das Vertrauen in dieses Geschehen schmilzt, es paradox wird.

Bei den Handlungen von Regierungen und Wissenschaftern erfüllen die zahlreichen Pannen sowie die Intransparenz der Entscheidungen diese „Zufallsfunktion“. Das Paradoxe erscheint uns tagtäglich und präsentiert uns eine Wirklichkeit, auf die es zu reagieren gilt. Angefangen von der Einschätzung der Gefährlichkeit des Virus, des Nutzens von diversen Vorkehrungen dagegen bis hin zur entscheidenden Frage der Verhältnismäßigkeit von ergriffenen Maßnahmen sind wir alle tagtäglich mit dem Paradoxen und einer daraus entstehenden neuen Wirklichkeit konfrontiert.

Dürrenmatts 17. These „Was alle angeht, können nur alle lösen“ wäre sodann eine Konsequenz dieser enttarnten Wirklichkeit, welche sich etwa stützend auf Poppers politisch-moralische Regeln zur Problemlösung entwirren ließe. Aber von einer „Vernunft als Wille zur Problemlösung“ ist vielfach wenig vorhanden. Viel zu sehr spielen Interessen eine Rolle, sowohl politische als auch wirtschaftliche. Durch Letztere werden auch die „Betroffenen“ daran gehindert, ihre Beiträge zur Problemlösung zu liefern, was auch ein demokratiepolitisches Problem darstellt.

Die Protagonisten des Stückes, Einstein, Newton und Möbius, nehmen eine vollkommen unterschiedliche ethische Haltung zu ihrer Verantwortung als Wissenschafter ein. Der Corona-Bürger hingegen ist nicht nur mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Aussagen konfrontiert, sondern auch mit der Verantwortung der Politiker, welche teils schwer durchschaubar, täglich wechselnd, intransparent und häufig auch unvernünftig zu sein scheint.

Wie formulierte es Dürrenmatt in seiner These 16: „Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkungen alle Menschen.“ Auch wenn die Gültigkeit dieses Wissenschaftsbegriffes in der heutigen Realität wissenschaftlichen Handelns und Forschens durchaus zu hinterfragen ist, so sind insbesondere die Konsequenzen, welche die Politik daraus zieht, nicht nur Allgemeingut, sondern fordern vom Bürger geradezu die Auseinandersetzung damit ein.

Dass diese durch die etablierte Politik so weit wie möglich behindert wird, ist der eigentliche Skandal in einer demokratischen und offenen Gesellschaft. Wer nicht zu den Befürwortern von Regierungsmaßnahmen zählt, wird als Querdenker im negativen Sinn oder als Verschwörungstheoretiker diffamiert. Auch das ist bis zu einem bestimmten Grad paradox.