Woko vom 25.8.: Plädoyer zum Innehalten Drucken E-Mail

 

In seiner Regierungserklärung vom 31. Mai 1983 wies der damalige Bundeskanzler  Fred Sinowatz darauf hin, dass wir in einer Welt leben, in der alles sehr kompliziert sei und es aus diesem Grunde angebracht sei, mitunter zu entschleunigen, nachzudenken, innezuhalten. Zumindest einmal setzte er diese Lebensphilosophie auch als politische Strategie ein, als er mit dem Aufruf zu einem „Weihnachtsfrieden“ die 1984 zu eskalieren drohende Auseinandersetzung rund um den Bau des Kraftwerks Hainburg entschärfte.

Inzwischen sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen und die Welt bzw. die Fragestellungen und Probleme, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben, ist wohl noch „komplizierter“ geworden. Zahlreiche Faktoren haben dazu beigetragen, von der zugenommenen Informationsfülle über das Weltgeschehen, den neuen technischen und medialen Möglichkeiten bis hin zu den handels- und marktpolitischen Verflechtungen leben wir in einem Dickicht von Informationsbuzzels, welche es zusammenzusetzen gilt, bevor wir Entscheidungen treffen.

Diese Informationsbits prasseln jedoch nicht nur nahezu unüberschaubar auf uns ein, sie vermitteln uns eine Welt, welche der Philosoph Günther Anders als „Phantom und Matrize“ beschrieb und nicht unbedeutend zu einer in seiner philosophischen Anthropologie postulierten „Weltfremdheit“ des Menschen beitragen, die ihn schließlich „heimatlos“ machen.

Diese Heimatlosigkeit, die in Anlehnung an Marx auch als Entfremdung des Menschen von seinen Produkten und letztlich von sich selbst zu verstehen ist, schafft Orientierungslosigkeit, in welcher die Suche nach Halt, Sinn und Lösungen immer schwieriger zu werden droht bzw. die Menschen dazu verleitet, den nächstbesten Grashalm zu ergreifen, der diesen Halt zu versprechen scheint. Mitunter ist das auch eine Erklärung für einen politischen Rechtstrend, welcher weltweit um sich greift, indem er diese Grashalme in den Gewächshäusern von Populisten züchtet und dem Volk zum Fraß vorwirft.

In dieser prekären Situation, zu welcher sich noch eine weltweite Interessensverteilung gesellt, in der immer weniger über immer mehr dominieren, sollen nun gleichsam existentielle Lösungen gefunden werden, die das Überleben der Menschheit sichern, wie beispielsweise die Vermeidung des Klimagaus. Ein nahezu aussichtsloses Unterfangen unter diesen Bedingungen.

Politische Entscheidungsträger agieren nahezu ausschließlich macht- und wahlorientiert und sind dafür jederzeit zu Schnellschüssen bereit, die häufig mehr Probleme schaffen als lösen, wirtschaftliche Interessenslagen sind von kurzfristigen Gewinnorientierungen getrieben und von Marktvorstellungen geprägt, welche zumindest in vielen Bereichen nicht  mehr geeignet erscheinen, die Problemlagen zu meistern.

Man hat den Eindruck, die Orientierungslosigkeit, hat selbst diejenigen ergriffen, welche die Rahmenbedingungen für die Möglichkeit einer sinnvollen Orientierung für möglichst viele Menschen vorgeben sollten. Die Kompliziertheit ist systembedingt, sie ist längst nicht mehr die Ausnahme, sie ist die Regel.

 

In dieser Situation tut Entschleunigung not. Nachdenken ist angesagt. Wir brauchen Zeit, um das Komplexe zu entwirren, um Wesentliches von Unwesentlichen zu trennen, um vernünftige Strategien für eine zukünftige Welt zu entwickeln. Nehmen wir uns die Zeit dazu, fangen wir bei uns selbst an!